Arm trotz Arbeit?

Die Vorstellung, dass ein fester Arbeitsplatz automatisch vor finanziellen Sorgen schützt, gehört längst nicht mehr zur Realität vieler Menschen in Deutschland. Trotz geregelter Tätigkeit, pünktlichem Arbeitsbeginn und vollem Einsatz bleibt am Ende des Monats oft kaum mehr übrig als ein schmaler Restbetrag – wenn überhaupt. Wer dann zusätzlich Bürgergeld bezieht, gehört zur Gruppe der sogenannten „Aufstocker“. Ein Begriff, der nüchtern klingt, aber in Wahrheit auf eine tiefgreifende soziale Schieflage hinweist.

Diese Menschen leisten ihren Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft. Sie arbeiten im Einzelhandel, im Pflegebereich, in der Logistik oder der Gastronomie – und dennoch reicht ihr Einkommen nicht, um die grundlegenden Lebenshaltungskosten zu decken. Erwerbsarmut, also Armut trotz Erwerbstätigkeit, ist ein Phänomen, das längst keine Randerscheinung mehr ist, sondern einen festen Platz im deutschen Arbeitsmarkt eingenommen hat. Doch warum ist das so?

Aufstocken – wenn Arbeit allein nicht genügt

Wer in Vollzeit arbeitet, sollte in der Lage sein, sich und seine Familie zu versorgen. Diese Annahme erscheint selbstverständlich – und ist doch für viele nicht mehr gültig. In der Realität erleben hunderttausende Beschäftigte jeden Monat aufs Neue, dass der Lohn schlicht nicht reicht. Steigende Mieten, hohe Energiekosten und der allgemeine Anstieg der Lebenshaltungskosten führen dazu, dass selbst vollzeitarbeitende Menschen auf ergänzende Leistungen vom Jobcenter angewiesen sind.

Aktuelle Zahlen zeigen, dass über 800.000 Personen trotz Erwerbstätigkeit Bürgergeld erhalten. Sie haben keine Arbeit verweigert, sondern befinden sich in einem System, das Lücken aufweist. Besonders betroffen sind Branchen mit geringer Tarifbindung, viele Teilzeitbeschäftigte, Alleinerziehende oder Menschen mit befristeten Arbeitsverträgen. Für sie ist Aufstocken kein Ausnahmefall, sondern Alltag. Ein Alltag, der mit Unsicherheiten, demütigenden Anträgen und einem Gefühl struktureller Benachteiligung verbunden ist.

Freibeträge und Anrechnungen

Im Zentrum der finanziellen Berechnungen rund um das Bürgergeld steht § 11 des Zweiten Sozialgesetzbuches (SGB II). Er legt fest, welches Einkommen in welchem Umfang auf die Leistungen angerechnet wird – eine zentrale Vorschrift, die oft für Verwirrung sorgt. Denn nicht der Nettolohn allein entscheidet, sondern das „zu berücksichtigende Einkommen“ nach Abzug gesetzlich definierter Freibeträge und der Berücksichtigung von Vermögen.

So existiert ein Grundfreibetrag von 100 Euro monatlich. Darüber hinaus bleiben 20 Prozent des Einkommens zwischen 100 und 1.000 Euro anrechnungsfrei, sowie 10 Prozent im Bereich von 1.000 bis maximal 1.200 Euro (beziehungsweise 1.500 Euro bei unterhaltspflichtigen Kindern). Zusätzlich können bestimmte Ausgaben wie Fahrtkosten zur Arbeit, Kinderbetreuung oder notwendige Versicherungen vom Einkommen abgezogen werden. Auf dem Papier klingt das nach einem ausgeklügelten System. In der Praxis ist es jedoch für viele kaum nachvollziehbar, besonders wenn auch das Vermögen – etwa Ersparnisse oder Immobilienbesitz – berücksichtigt wird.

Die Folge: Der Gang zum Jobcenter wird zur bürokratischen Herausforderung. Wer sich durch Antragsformulare, Nachweispflichten und Rückfragen kämpfen muss, verliert nicht selten den Überblick – oder die Geduld. Fehlerhafte Berechnungen und verspätete Auszahlungen sind dabei keine Ausnahme, sondern Ausdruck eines Systems, das oft mehr Hürden aufstellt, als es Unterstützung bietet.

Erwerbsarmut als strukturelles Problem

Die Tatsache, dass viele Menschen trotz Arbeit unterhalb der Armutsgrenze leben, verweist auf ein tiefgreifendes gesellschaftliches Ungleichgewicht. Arbeit hat in der sozialen Marktwirtschaft eine zentrale Bedeutung: Sie soll Teilhabe ermöglichen, Lebenssicherheit schaffen und soziale Integration fördern. Doch wenn der Lohn nicht reicht, gerät dieses Fundament ins Wanken.

Erwerbsarmut entsteht nicht durch individuelles Versagen, sondern durch strukturelle Faktoren. Niedriglöhne, fehlende Tarifbindung, mangelnder Wohnraum, die Teilzeitfalle und die weit verbreiteten Minijobs – all diese Elemente tragen dazu bei, dass Arbeit nicht mehr automatisch vor Bedürftigkeit schützt. Insbesondere Minijobs, die häufig keine ausreichenden sozialen Absicherungen bieten und nur geringe Stundenlöhne aufweisen, stellen eine besondere Herausforderung dar. Sie sind oft der Einstieg in prekarisierte Arbeitsverhältnisse, die langfristig kaum zur Existenzsicherung beitragen.

Besonders gravierend wird die Lage, wenn Kinder im Haushalt leben oder unvorhergesehene Ausgaben hinzukommen. Dann geraten Haushalte schnell ins finanzielle Wanken.

Die psychologischen Folgen sind nicht zu unterschätzen: Wer dauerhaft unterhalb der Armutsgrenze lebt, verliert mitunter das Vertrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen. Schamgefühle, soziale Isolation und eine dauerhafte Belastung durch finanzielle Unsicherheit prägen den Alltag vieler Betroffener.

Bürokratischer Kraftakt der Antragstellung

Wer ergänzende Leistungen beantragen muss, betritt ein Dickicht aus Formularen, Anlagen und Vorschriften. Selbst gut informierte Menschen verlieren im Paragrafendschungel schnell die Orientierung. Die Antragstellung für Sozialleistungen, wie etwa der Wohngeldanspruch, erfordert:

  • Lückenlose Nachweise über Einkommen, Vermögen, Wohnkosten und Bedarfsgemeinschaften
  • Detaillierte Offenlegung der eigenen Lebensverhältnisse
  • Regelmäßige Aktualisierungen bei jeder Veränderung der Erwerbssituation

Nicht selten dauert es Wochen, bis ein Antrag abschließend bearbeitet wird. In dieser Zeit bleibt Betroffenen häufig nur die Hoffnung, dass Rückzahlungen nicht zu hoch ausfallen oder gar Leistungen zurückgefordert werden.

Diese bürokratische Überforderung führt dazu, dass viele anspruchsberechtigte Personen ihre Ansprüche nicht geltend machen. Studien sprechen von einer sogenannten verdeckten Armut, bei der mehrere hunderttausend Menschen auf Leistungen verzichten – aus Scham, Unwissenheit oder Angst vor dem Verfahren.

Wege aus der Erwerbsarmut – aber wie?

Das Aufstocken über das Bürgergeld stellt aktuell einen wichtigen Mechanismus dar, um die Existenz vieler Menschen zu sichern. Es ist jedoch keine langfristige Lösung. Auf Dauer braucht es strukturelle Reformen, die das Problem an der Wurzel bekämpfen. Dazu gehören unter anderem:

  1. Erhöhung des Mindestlohns, der nicht nur symbolisch, sondern real armutsfest gestaltet werden muss
  2. Förderung von Tarifbindung, um Dumpinglöhne zurückzudrängen
  3. Investitionen in sozialen Wohnungsbau, um die Mietbelastung zu senken
  4. Entbürokratisierung der Sozialleistungssysteme, damit Hilfe tatsächlich dort ankommt, wo sie gebraucht wird
  5. Stärkung von Bildungs- und Weiterbildungsangeboten, um den Einstieg in besser bezahlte Tätigkeiten zu ermöglichen

Wer in Deutschland arbeitet, soll von seiner Arbeit leben können. Dieses Prinzip darf kein leeres Versprechen bleiben. Dass derzeit Hunderttausende zusätzlich Bürgergeld benötigen, obwohl sie erwerbstätig sind, zeigt: Die Schere zwischen Arbeit und Existenzsicherung klafft zu weit auseinander. Das Bürgergeld und die Löhne rücken immer näher zusammen, was für viele Geringverdiener bedeutet, dass die Grenze zwischen Sozialhilfe und Arbeitseinkommen zunehmend verschwimmt. Dies führt zu der Frage, inwiefern die Anreize für eine Erwerbstätigkeit noch ausreichend gegeben sind, wenn die Unterstützung des Staates immer mehr in Reichweite rückt.

Die Betroffenen verdienen mehr als bloß den Ruf nach Eigenverantwortung. Sie brauchen faire Löhne, gesellschaftliche Anerkennung und ein Sozialstaatssystem, das nicht abschreckt, sondern unterstützt. Nur so lässt sich ein Zustand überwinden, in dem Menschen trotz täglicher Anstrengung in Unsicherheit leben müssen – und in dem das Wort „Arbeit“ für viele nicht mehr mit Würde, sondern mit Sorge verbunden ist.