Beiträge von coralle

    Ich möchte ja keineswegs dramatisieren, aber atmosphärisch sind durchaus Parallelen zu einer Zeit festzustellen, in der Menschen wegen ihrer rassischen Zugehörigkeit diskriminiert, verfolgt und schließlich eliminiert wurde. Die Entwicklung ist alarmierend und es wäre naiv darauf zu vertrauen, dass sich alles ""irgendwie wieder einrenkt". Im Gegenteil!


    Das hinter dieser Abkehr vom Solidargedanken stehende inhumane Potential liegt nicht allein, wahrscheinlich nicht einmal im Schwergewicht bei Regierung und Staat. Es liegt in den Menschen selbst, die in ihrer Abhängigkeit nicht nur hilfloser, sondern auch brutaler werden. Doch das ist nicht die alleinige Ursache. Unkontrollierte Exzesse hat es in allen Zeiten und Ordnungen gegeben. Die das „Volk“ ausmachenden Menschen haben häufig den Auftrag eines Systems, einer Politik nicht nur widerspruchslos und willfährig, sondern sogar im Übermaß erfüllt. Beispielhaft erwähnt seien die rassistischen Ausschreitungen in der Zeit des Nationalsozialismus oder die Vertreibung der besitzenden Klasse aus ihren Fabriken, Gütern und Villen in der Zeit des Kommunismus. Überkonformität ist kein neuzeitliches Phänomen, in Revolutionen und Kriegen, in der Ketzer- und Hexenjagd sind Menschen dem politischen Auftrag einer Ordnung exzessiv nachgekommen, mussten in ihrem Erfüllungseifer von den Verantwortlichen sogar gebremst und gebändigt werden. Die übereifrigen Menschen waren nicht nur manipuliert und abhängig, auch Ehrgeiz lag ihren entfesselten Aktivitäten nicht zugrunde. Die Ursache liegt in einem massenpsychologischen Phänomen, in der noch zu erörternden Konformitätsneigung, die ihren politischen Ausdruck in der Ochlokratie (Pöbelherrschaft) finden kann. Doch diese Exzesse, deren Grundmuster zeitlos gilt, entstanden nur scheinbar spontan. Enthemmung entfaltet sich auf einem fruchtbaren Boden. In dessen Bereitung – vor allem durch Manipulation – liegt die Verantwortung der Funktionsträger des Systems, des Staates.


    Vorwerfbar ist die Unwilligkeit – zum Lernen, zur Arbeit, zur Integration. Wie sieht es aber aus mit der Unfähigkeit, wie soll Schwäche bewertet werden? Was will man den Kranken, Alten und Gebrechlichen vorwerfen, die als Kostenlast ebenso wenig in die Leistungsoptik des Systems passen, deren ökonomischer Unwert jedoch Folge eines zwangsläufigen natürlich-biologischen Prozesses ist?


    Man wird ihnen skurrilerweise Egoismus vorwerfen. Denn sie haben in besseren Zeiten, in Erwerbszeiten, nicht ausreichend Vorsorge für Alter und Siechtum getroffen, haben sich überwiegend bis ausschließlich auf die Hilfe durch die „Solidargemeinschaft“ verlassen. Sie haben nicht für einen Nachschub an Leistungsträgern gesorgt, haben die Freuden eines hedonistischen Single-Daseins den Mühen einer familiären Nachwuchsaufzucht vorgezogen. Vielleicht haben sie ihre Gebrechlichkeit durch eine ungesunde Lebensweise gefördert, was die gelegentlich versäumte Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen einschließen kann. Die Skala möglicher Vorwürfe ist breitgefächert und im Ansatz wurden all diese Punkte tatsächlich schon medial thematisiert.


    In Großbritannien werden mit Überschreitung einer Altersgrenze keine Organtransplantationen mehr vorgenommen. Das lässt sich durchaus begründen: Spenderorgane sind unstreitig knapp, ein nutzensorientierter Umgang ist daher geboten. Wenn das Nutzenskriterium in der statistisch zu erwartenden Restlebenszeit des Empfängers besteht, müssen Zuteilungssperren die naheliegende Konsequenz sein. Nicht nur Organe können sich verknappen, auch teure Medikamente, Therapien, Armaturen, Krankenhausbett-Kapazitäten, Alters- und Pflegeheimplätze. Vergeldlichungsstreben wird auch auf diesem Feld zur Unwertausdehnung, zur Rechtfertigung von Selektion führen. Doch wo liegt die Grenze? Fest steht, dass das Damoklesschwert der Selektion nur über unvermögenden Patienten schwebt, dass der ökonomische Unwert also auch hier den Urgrund bildet.


    Die Systemgesellschaft steht vor einer Wahlentscheidung.


    Ein möglicher Ausweg – die humanistische Option – bestünde in der Ausgliederung, in der auch offiziellen Abtrennung der unwertigen Menschen vom sterbenden System. Ihre Existenz könnte in entgeldlichten Sonderzonen mit autarker Selbstversorgung, in einer anerkannten Parallelgesellschaft gesichert werden. Dieser Ausweg bleibt jedoch eine Illusion, denn der Totalcharakter des Systems verträgt nicht zwei selbständige Wirtschaftskreisläufe in einer Gesellschaft, und auch die Sozialbürokratie des Staates hat ein Erhaltungsinteresse an der gegenwärtig bestehenden Situation. Vergeldlichungszwang kennt kein Rücksichtnahmegebot, er schließt Ausnahmen, Übergangs- und Anpassungsprozesse aus, auch wenn diese – am Beispiel der Angliederung Ostdeutschlands – nach aller menschlichen und wirtschaftlichen Ration geboten waren.


    Die zweite – schon weniger humanistische – Option bestünde in der Fortschreibung des gegenwärtigen Zustandes, also in der Aufrechterhaltung fortlaufender Alimentierung, in der Institutionalisierung der Ausgrenzung. Dieser Zustand sozialer Apartheid würde immerhin das Überleben der Unterschicht auf niedrigstem, keineswegs menschenwürdigem Niveau ermöglichen. Mit der Expansion von Armut und Elend entsteht jedoch eine neue Dimension der Kosten, die schon im aktuellen Umfang nach Systemlogik nicht mehr tolerabel sind. Im Übrigen läuft die (scheinbar) noch intakte Rest-Gesellschaft, minorisiert zu werden. Darin liegt eine Bedrohung an sich.


    Das System kann die unwertigen Menschen nicht reintegrieren, es will sie nicht aus seinem Machtbereich entlassen und es will und kann sie nicht dauerhaft unterhalten. Damit bleibt einzig die dritte, die eiskalte Option, die nach Kostendiktat wohl schon längst gewählt wurde.


    Eliminierung fängt bereits mit dem Entzug von Hilfe an, also mit Passivität. Unterlassen ist dann kriminell, wenn sich Bedürftigkeit als völlig abhängiges, hilfloses Leben darstellt. Das soziale Großverbrechen bedarf keines (aktiven) Eingriffs, doch auch dieser wird nicht auf sich warten lassen. Vorstellbar ist, dass die Eliminierung in Stufen erfolgt. Erste Opfer könnten diejenigen sein, die aufgrund ihrer Notlage kriminell werden. Das System wird eine Diskussion initiieren, die in Richtung Wiedereinführung oder Ausweitung der Todesstrafe geht. Ist dieser Damm einmal gebrochen, gibt es nach aller historischen Erfahrung kein Halten mehr. Auch die Bagatellstraftat, der Mundraub oder die Gebührenhinterziehung, kann in der öffentlichen Wahrnehmung zum Kapitalverbrechen werden, das nach schärfster Sanktion verlangt. Zweite Zielgruppe könnten die Alten und Kranken sein.


    Man darf sich den finalen Bereinigungs- und Entsorgungsprozess freilich nicht als Schlachtfest vorstellen. Es werden wohl keine Exzesse stattfinden, weder Todesschwadronen noch Todesengel werden das Geschehen dominieren. Dafür kennen wir das System zu gut. Das rechtsförmlich Gebotene und das ästhetisch Zumutbare werden eingehalten. Staatlich-hoheitliche Tätigkeit wird – aus Gründen der Instanzwahrung und Effizienz – auf privatwirtschaftliche Einrichtungen übertragen, Urteile und Verwaltungsakte können durch Vereinbarungen ersetzt werden, die den Anschein der Freiwilligkeit erwecken. Der Tod kann im einsichtsvollen Gebrauch eines Freiheitsrechts selbst gewählt sein. Freiwilligkeit, wenn auch suggestiv erzwungen oder herbeibehandelt, heilt (fast) alle Rechtsmängel. Wenn die Unwertausdehnung, also die Feststellung individuellen Minderwertes, von den Betroffenen selbst akzeptiert wird, fallen die letzten Hindernisse. Die Gestaltungs- und Verschleierungsmöglichkeiten sind unbegrenzt, was auch für begriffliche Kreationen gilt. Begriffe wie Todesstrafe, Exekution oder Euthanasie sind negativ besetzt. Im innovativen Austausch der Worte ist das System geübt, ganze Branchen leben davon und könnten sich sodann neue Wirkungsfelder erschließen. Das Unvorstellbare sucht sich einen förmlich legalen Rahmen. So werden die Akteure auch nicht die pathologischen Sadisten, die Enthemmten und Verkommenen sein, sondern die Angepassten, die Gehorsamen, die Bürokraten.


    Ein Orwellsches Experiment globalen Ausmaßes, ein Hirngespinst? Die Warnzeichen sind bereits jetzt unübersehbar. Man kann Fortgang und Abschluss einer Entwicklung anhand der Ursprünge diagnostizieren. Die Schwächsten werden zunehmend Opfer gewaltsamer, oft tödlicher Übergriffe. Als Supermarktkassiererin wird keine Frau mit Zahnlücke eingestellt. Pauschaltouristen verlangen ihr Geld zurück, weil sie im Hotelrestaurant den Anblick eines Rollstuhlfahrers ertragen mussten. Die Thematisierung von Armut und Krankheit, ja von Unvollkommenheit mit einer zunehmend diskriminierenden Wertungsrichtung, zynische Ratschläge zum „Sparen“ an den täglichen Mahlzeiten, die Wiederentdeckung des medialen Prangers, das Trommelfeuer verbaler und realer Zumutungen schaffen das beschriebene mentale Substrat, auf dem das Ungeheuerliche gedeihen kann.


    Diese Option steht für den sozialen Holocaust, der umfassender und systematischer ausfallen wird als alles geschichtlich Bekannte. Die Vollendung des sozialen Ungleichgewichts, die im Falle ungebremster Systementwicklung eintreten wird, markiert zugleich den Abschluss menschlicher Zivilisation. Was bedeutet das für die überlebende Rest-Gesellschaft? Allenfalls einen Zeitgewinn.


    (c) Viktor Quandt

    In Bayern macht jetzt Haderthauer Stimmung gegen die Hartz-IV-Empfänger. Dort soll eine "Bürgerarbeit" eingeführt werden, das heißt: gemeinnützige Arbeitspflicht ist verbindlich. Nach meiner Beobachtung ist das wieder einer der heißen demagogischen Luftballons, die mehr der Stimmungsmache dienen - wobei man schon von einer Art Pogromstimmung sprechen kann, denn das allgemeine Klima wird immer brutaler.
    Das ganze Regelwerk ist doch gescheitert und die "Fünfeuro-Reform" ist Flickwerk, inhaltlich wie handwerklich Pfusch. www.typeer.de/.../Neues-Hartz-IV-eine-UEbergangsloesung